Hartmut Weise im Interview
Ich habe zwei Leben
Bei FSB endet eine Ära: Am 31. August verabschiedet sich Hartmut Weise in den Ruhestand. Als Designer hat er seit 1991 die Produkte aus Brakel maßgeblich mitbestimmt. Gutes, menschliches Design ist seine Leidenschaft – ob beim barrierefreien Ergosystem oder den zahlreichen Klinkenmodellen, die er entworfen hat.
Weise hat an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle studiert und bis zur Wende im dortigen VEB Designprojekte gearbeitet. Zum Abschied sprachen wir mit ihm über die Chemieberatungsstelle, den Greifraum und warum im Design heute nur mehr Revolutiönchen möglich sind.
Herr Weise, Sie haben 1991 bei FSB angefangen. Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass Sie den Rest Ihres beruflichen Lebens mit Griffen und Greifen verbringen?
Man weiß nie, was einen erwartet im Leben. Ich hätte mir während meines Studiums auch nicht vorstellen können, dass sich jemals die Grenze öffnet. Dadurch habe ich zwei Leben, eines in der DDR, ein Leben danach.
Wo haben Sie zu DDR-Zeiten gearbeitet?
Im VEB Designprojekte, einem staatlichen Designbüro, das dem Amt für industrielle Formgestaltung unterstellt war. Davon gab es fünf in der DDR, ich war in Halle beschäftigt. Es war nämlich nicht erwünscht, dass Designer:innen als Freiberufler:innen Produkte für die Industrie gestalteten. Betriebe konnten unsere gestalterische Leistung in Anspruch nehmen, wir waren Dienstleister:innen für die regionale Industrie.
Der Wechsel der Systeme, aus dem staatlichen Designatelier in ein privatwirtschaftliches Unternehmen, war das ein Kulturschock?
Nein, das war kein Kulturschock. Aber es haben sich mir ganz andere Möglichkeiten eröffnet. Ich konnte auf Materialien und Prozesse zugreifen, die in der DDR undenkbar gewesen wären.
Kopiertechnik beispielsweise, das gab es in der DDR nicht. Dafür gab es eine Chemieberatungsstelle, die einen auf verfügbare Materialien und Rohstoffe einschwor. Wenn ich beispielsweise ein Kunststoffteil entworfen hatte, dann wurde ich von der Beratungsstelle auf PVC gelenkt. Denn PVC war verfügbar, im Gegensatz etwa zu Polycarbonat oder anderen Importkunststoffen.
Ich war also schon bei der Produktentwicklung sehr eingeschränkt. Hier bei FSB war plötzlich alles möglich. Ein gestalterisches Paradies. Allerdings mussten alle Produkte verkaufsfähig sein. Die im Studium proklamierte Weltrettung durch Design, die fand hier nun auch nicht statt. Aber trotzdem habe ich versucht, diesen Anspruch mit dem Konsum zu verbinden. Das war immer meine persönliche Einstellung.
Ist Ihnen die Verbindung gelungen?
Ja, bei verschiedenen Produkten ist mir das gut gelungen, etwa beim Ergosystem. Da hatte ich in der Entwicklung relativ freie Hand. Ich habe versucht, das Thema eigenständig anzugehen und neu aufzurollen, auch unter dem Gesichtspunkt des Greifraums.
Was ist denn ein Greifraum?
Als ich bei FSB anfing, war vieles schon getan und der Markt gut bedient mit Türdrückern. Also habe ich mich mit den vier Geboten des Greifens von Otl Aicher auseinandergesetzt. Was mir auffiel: Es geht dabei um das Objekt, um die Frage, was das Ding mit mir macht. Mich interessierte aber der Raum vor der Tür, was passiert, bevor ich durchgehe – was für ein Prozess ist das? Diesen Raum habe ich Greifraum genannt. Der Greifraum in Verbindung mit den ergonomischen Möglichkeiten der Hand, das hat mich gestalterisch bestimmt.
Und was macht den Greifraum konkret aus?
Ergonomie ist, mit meinen Worten gesagt, der Dienst an der „Faulheit“ des Körpers. Ich versuche, es dem Körper einfach zu machen, Aufgaben zu bewältigen. Was brauche ich für eine entspannte, ergonomische Bewegung? Wichtig ist zum Beispiel das gestreckte, nicht vorgeformte Handgelenk. Ich habe betrachtet, was eigentlich passiert, bevor man tatsächlich greift. Wenn ich durch eine Tür gehen möchte, mache ich automatisch eine diagonale Bewegung mit der dem Griff entgegengesetzten Hand. Unbewusst versucht man immer, dem Körper seinen ungehinderten Bewegungsraum zu eröffnen. Daraus ergibt sich, dass ich diagonal in den Türdrücker greife. Ein dazu angekippter Drücker bietet mir eine bessere Kontaktfläche als ein orthogonal zur Tür ausgerichteter.
Im Türdrücker treffen sich zwei Welten: Architektur und Mensch. Hier berührt der Mensch das Haus. Ich muss also der Ästhetik der Architektur dienen, aber auch der Benutzbarkeit. Architektonisch bestimmte Türdrücker haben oft rechteckige Querschnitte oder rechteckige Ansichten, sind Gebäudeteile. Ich habe für mich unter anderem den ovalen Querschnitt als ein gestalterisches Thema für die Hand entdeckt.
Nach 27 Jahren Beschäftigung mit dem Thema Greifen, was ist Ihre wichtigste Erkenntnis?
Es gibt immer wieder neue Dinge zu entdecken. Aber bei vielen Produkten werden die Entwicklungssprünge kleiner. Der Freischwinger von Marcel Breuer beispielsweise, der war für das Stuhldesign seiner Zeit eine Revolution. Heute werden die Revolutionen immer kleiner, Revolutiönchen. Das gilt natürlich auch für Türdrücker.
Aber heißt das nicht im Umkehrschluss, dass die Produkte schon ziemlich gut sind?
Das Designniveau ist in Deutschland und vielen Teilen der Welt sehr hoch. Wenn ich etwas Neues gestalten will, was Bestand hat und Substanz, was vielleicht dazu noch logisch und einfach ist, dann wird mein Spielraum immer geringer. Bei meinen jüngsten Produkten, den Türdrückern C-Line und V-Line, ist mir noch mal ein kleines Revolutiönchen gelungen. Sie arbeiten mit einer funktionalen Dekoration in der Frontfläche. Bislang ist die Front des Drückers wenig berührt worden. Die meisten Entwürfe, die man so kennt, haben eine glatte Front.
Aber das hat doch auch fertigungstechnische Gründe?
Genau, unsere Fertigungstechnik hat sich entwickelt, Fräsen ist mittlerweile erschwinglich. Durch das Fräsen bekommt die Front sogar eine besondere Qualität, eine recht saubere Erscheinung. Und wenn ich mir die Drücker aus der Perspektive der vier Gebote des Greifens anschaue, sehe ich: Der Daumen hat nicht nur eine Bremse, er wird sogar geführt. Ich kann was entdecken mit der Hand – das finde ich wichtig. Und das Auge bekommt auch was zu sehen, denn der Drücker erhält durch das Lichtspiel auf der Front eine ganz andere Erscheinung. Bei der konkaven Variante ergibt sich außerdem zwangsläufig ein konvex gebogener Rücken, die Finger werden weich geführt. Eine Dualität aus optischem und ergonomischem Gewinn.
Sie haben für FSB das Ergosystem entwickelt, mit Produkten für das barrierefreie Leben. Was stand für Sie dabei im Vordergrund?
Ich möchte dem Menschen helfen in der Bewältigung seines täglichen Lebens – durch viele kleine Annehmlichkeiten. Man muss ihm auch psychisch helfen, man darf dem Menschen nicht das Gefühl geben, dass er seinen Alltag nicht mehr schafft. Dabei spielt auch die Ästhetik eine Rolle. Die Produkte müssen so ästhetisch und begehrenswert sein, dass sie nicht wie ein „Gesundheitsprodukt“ wirken, sondern wie ein universelles Produkt. Diese Aufgabe hat mich motiviert.
Herr Weise, vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für Ihren neuen Lebensabschnitt!