Tatiana Bilbao im Porträt
Die Forscherin
Sie gehört zu einer überaus talentierten mexikanischen Architektengeneration. Und ist Teil einer weitverzweigten Architekt:innenfamilie. Tatiana Bilbao aus Mexiko-Stadt hält auf Einladung von FSB zum Literatur- und Musikfest in Ostwestfalen-Lippe die diesjährige „Rede zur Architektur“. Am Freitag, 21. Juli 2017, wird sie im Museum Marta Herford ihre Arbeit vorstellen.
Eigentlich wollte Tatiana Bilbao überhaupt keine Architektin werden. Der Beruf war in ihrer Familie einfach viel zu präsent: Eine Tante und ein Onkel waren Architekt:innen und ebenso ein knappes Dutzend ihrer Cousinen und Cousins. Auch Bilbaos Großvater, Tomás Bilbao, war Architekt und hatte in der Zweiten Spanischen Republik als Bauminister gearbeitet. Der Franco-Putsch zwang ihn mit seiner Familie ins Exil, und sie gingen nach Mexiko-Stadt, das sich damals als neue Heimat von vielen spanisch-sprachigen Emigrant:innen zum linksliberalen Zentrum für Kunst und Wissenschaften entwickelte.
Tatiana Bilbao, 1972 in Mexiko-Stadt geboren, wollte dieser familiären Prägung entfliehen, aber ihr Industriedesign-Studium in Mailand blieb nur ein sehr kurzer Umweg, bevor sie dann doch an der Universidad Iberoamericana in der mexikanischen Hauptstadt Architektur studierte.
Ihren Abschluss machte sie 1996 gerade rechtzeitig zum Ende einer langen Wirtschaftskrise in Mexiko, die fast alle privaten Architekturbüros im Land zum Aufgeben gezwungen hatte. „Architektur war damals ein Luxus, den sich keiner leisten wollte“, erinnert sich Bilbao.
Diese Phase hat sie selbst nur durch ihre Familie gespürt. Bilbao arbeitete knapp zwei Jahre lang im städtischen Amt für Wohnungsbau und Stadtentwicklung von Mexiko-Stadt, organisierte außerdem an ihrer ehemaligen Universität Vortragsreihen und Konferenzen mit internationalen Architekt:innen wie Álvaro Siza, Rem Koolhaas oder Tadao Ando. Dann gründete sie 1999 mit Fernando Romero, Jahrgang 1971, das gemeinsame Büro LCM, das Laboratorio de la Ciudad de Mexico, mit dem sie vor allem Studienaufträge erstellten.
Als dann die Aufträge stetig zunahmen, trennten sich die beiden Partner im Guten, um ihre jeweils eigenen Büros zu gründen, die heute zu den international bekanntesten Mexikos zählen. Gemeinsam mit Derek Dellekamp, Frida Escobedo und Michel Rojkind sind Romero und Bilbao Teil einer äußerst bemerkenswerten Generation von Architekt:innen, die angesichts so spektakulärer Gebäude wie dem Museo Soumaya (Romero), der Cineteca Nacional (Rohkind) oder dem La Tallera Siqueiros (Escobedo) durchaus als Mexikos talentierteste Architekt:innengeneration aller Zeiten bezeichnet werden darf. Würde man jedem Mitglied dieser mexikanischen Generation wie in einer Fernsehserie bestimmte Rollen zuweisen, dann wäre Tatiana Bilbao vielleicht die bodenständige Grüblerin, deren wohlüberlegte Meinung von allen geschätzt wird.
Der Hang zur großen Geste, der bei den anderen immer wieder vorkommt, fehlt in ihrer Architektur fast völlig. Nur die beiden allerersten Projekte ihres eigenen Büros, ein Ausstellungspavillon in China und der erste Bauabschnitt im Botanischen Garten von Culiacán (beide 2007), zeigten sich noch mit ziemlich zackigen, fragmentierten Formen, deren leicht dekonstruktivistisches Aussehen Bilbao auch direkt den Vergleich mit Zaha Hadid einbrachte. Aber jenseits der allzu einfachen Kategorien „Frau“ und „Dekonstruktion“ gibt es wenig Parallelen zwischen Tatiana Bilbao und der aufbrausenden britischen Pritzkerpreisträgerin.
Was Bilbao von Hadid vor allem unterscheidet, ist, dass sie keine signature buildings produziert, also keine Gebäude mit deutlich erkennbarer Handschrift, die vor allem den Architekturschaffenden und seine immer gleiche „Haltung“ in den Vordergrund stellt. Bilbao forscht stattdessen an jedem Ort und mit jedem Auftrag aufs Neue nach einer passenden Herangehensweise und Entwurfsstrategie. So ist ihr Portfolio voller Überraschungen: Da steht das „Haus Ajijic“ (2011) mit seinen weichen, rötlich schimmernden Stampflehmwänden direkt neben dem „Haus Ventura“ (ebenfalls 2011) mit seinen verschachtelten, vielfach verwinkelten Einzelräumen, die innen und außen in knallharter Sichtbeton-Ästhetik aufeinander krachen. Da folgt einem Universitätsgebäude in Cancún (2013), das aus übereinander gestapelten Rechtecken mit einer Stahl-Glas-Fassade besteht, ein spiralförmiges und strahlend-weißes „Spectacle Center“ in Irapuato (2014), bei dessen Entwurf sich Bilbao von einer Kreispyramide im nahen Teuchitlán inspirieren ließ.
Ob sie Angst davor hat, sich als Architektin allzu schnell zu wiederholen und immer wieder dieselbe Routine auszuspielen? Nein, sagt Bilbao, sie habe es nie darauf angelegt, ihre Gebäude so unterschiedlich wie möglich zu bauen. Stattdessen stellt sie an ihre Architektur den Anspruch, jeden Ort mit seinen Bautraditionen möglichst präzise zu erforschen: Was wird in der Nähe hergestellt, wer wird das Haus bauen, wie werden Gebäude hier traditionell gebaut? Aus diesen Feldforschungen entsteht dann die Vielfalt an Formen, Materialien und Konstruktionsarten. Der Stampflehm beim Haus Ajijic half nicht nur, das niedrige Budget einzuhalten, sondern war eben auch ein in der Region gebräuchliches Material – die Bauarbeiter wussten, wie eine solche Konstruktion herzustellen war. Cancún hingegen, wo das imposante Forschungsgebäude aus Glas und Stahl errichtet wurde, ist eine „industriell geprägte Stadt voller Stahlwerke“, wie Bilbao sagt. Sie arbeite eben jedes Mal mit den Menschen, Materialien und Konstruktionsweisen, die sie an den Orten findet.
Da verwundert es kaum, dass sich Tatiana Bilbao zuletzt dem sozialen Wohnungsbau in Mexiko zugewandt hat – wo sie doch bislang vor allem für relativ luxuriöse Privathäuser bekannt war. Im Herbst 2015 präsentierte sie auf der ersten Architekturbiennale in Chicago den Prototypen für ihr neues Projekt, das „8.000-Dollar-Haus“. Es soll in seinem modularen Aufbau und in unterschiedlichen Materialien so flexibel wie möglich und dadurch im ganzen Land zu bauen sein. Eine erste Gruppe von 15 Häusern hat sie nach diesem Modell 2016 in Acuña fertiggestellt und dabei bereits beweisen können, wie sich die grundsätzlichen Überlegungen zu einem betont einfachen und günstigen Haus, das explizit für die ärmsten Bevölkerungsteile Mexikos entworfen wurde, an die konkreten physischen, klimatischen, politischen und topographischen Bedingungen eines realen Ortes anpassen lassen. Denn für jemanden wie Tatiana Bilbao, die eigentlich jeden Ort vor dem Bauen genau erforscht, müsste ja gerade eine solche Idee ein Ding der Unmöglichkeit sein: einen Grundtyp für ein überall zu reproduzierendes Haus zu entwickeln. Dass sie sich selbst eine solche Aufgabe stellt, zeigt, dass sie mit dem kontinuierlichen Erforschen des Neuen noch lange nicht abgeschlossen hat.
FSB freut sich über Anmeldungen für die „Rede zur Architektur“. Interessenten wenden sich bitte an .