Dario Malagutti im Interview

Venedig ist gleichbedeutend mit Sehnsucht!

12.04.18

Venedig ist eine Stadt der Legenden und der Kunst, aber auch der Widersprüche. Einer, der sich dort auskennt, ist Dario Malagutti, ein in Deutschland lebender Architekt mit italienischen Wurzeln. Jedes Jahr führt er zahlreiche Besucher:innen durch die Stadt. Ein kritisches Gespräch über Venedig, seine Legenden und die Frage, ob die Stadt noch zu retten ist.

Welches ist der schönste Mythos Venedigs?
Es gibt unendlich viele Legenden, die sich um die Stadt spinnen. Mir persönlich gefällt aber besonders die Geschichte des Dogen Marino Faliero im 14. Jahrhundert.

Er wurde, eines Staatsstreichs verdächtigt, nach nur einem Jahr Amtszeit hingerichtet. Die Regierenden wünschten sich, dass er schnell in Vergessenheit geraten möge. Daher fertigte der Maler Tintoretto auch nicht, wie bei anderen Dogen, ein aufwändiges Portrait an, sondern hängte anstelle dessen nur ein schwarzes Banner, als Zeichen der Schande, im Dogenpalast auf. Der Effekt war aber ein gegenteiliger: Herausragende Künstler:innen wie E.T.A. Hoffmann, Lord Byron oder Gaetano Donizzeti widmeten sich Faliero mit Erzählungen, Gemälden und sogar einer Oper. Die Faszination für den schmalen Grat zwischen Wahrheit und Erfindung findet sich in vielen Geschichten, die sich um Venedig drehen, wie etwa in den Legenden von Casanova und dem Evangelisten Markus.

Es scheint so, als bewegte sich die ganze Stadt auf diesem schmalen Grat und vereinte viele Gegensätze in sich.
Jean-Paul Sartre schrieb dazu: „In Venedig ist nichts einfach. Und zwar deshalb, weil es keine Stadt ist, sondern ein Archipel. Von seinem Inselchen schaut man sehnsuchtsvoll zur gegenüberliegenden Insel … Wo immer man ist, das wahre Venedig ist stets anderswo.“ Ich habe bei meinen Spaziergängen durch die Stadt schon oft gedacht, ich wäre angekommen. Und dann habe ich über den Kanal geschaut und etwas gesehen, das noch spannender erschien. Venedig ist gleichbedeutend mit Sehnsucht!

Der Architekt Dario Malagutti im Garten des Palazzo Contarini Polignac, dem Ort des BerührungsPUNKTE Meetingpoint 2018

War Venedig schon immer eine Stadt, die Architekturschaffende angezogen hat?
Nicht nur Architekt:innen, sondern gelehrte Personen im Allgemeinen pilgerten seit dem Spätmittelalter, und insbesondere seit der Renaissance nach Venedig. Es war eines der wichtigsten Handelszentren der Welt, das den Orient mit Nordeuropa verband, und daher schon immer eine sehr wohlhabende Stadt.

Woher kommt Ihr Interesse für Venedig?
Meine Familie mütterlicherseits kam aus Venedig, daher spüre ich schon eine Art Verbindung. Ich habe die Stadt über viele Jahre erlebt und die, teilweise dramatischen, Veränderungen haben mich dazu gebracht, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen und Führungen vor Ort anzubieten. Einer meiner Vortragstitel lautet „Paradigma Venedig“ und geht auf ein Zitat des jungen Le Corbusier zurück, der sagte „Je prends Venise à témoin“. Ich nehme Venedig nicht als Zeuge, sondern als Beispiel. Die Stadt ist ein Paradigma für das, was weltweit in den Städten falsch läuft. Nur werden diese Probleme aus meiner Sicht in Venedig durch das Medium Wasser deutlicher. Denn das, was wir als Venedig betrachten, ist eigentlich nur die Alt- beziehungsweise Innenstadt. Die Peripherie existiert nicht, zumindest ist sie für die Tourist:innen unsichtbar auf das Festland ausgelagert.

Was läuft denn falsch?
Die Innenstädte werden ausverkauft und stehen zunehmend leer. In Venedig, wie auch in anderen Städten, merkt man das daran, wenn man abends durch die Straßen läuft und kaum erleuchtete Fenster sieht.

Wem gehört denn Venedig?
Viele der Palazzi gehören wohlhabenden Familien, die dort, wenn überhaupt, nur noch einen Teil des Jahres wohnen. Viele der Häuser werden für hohe Summen für Events vermietet. Viel dramatischer ist es aber mit den normalen Wohnhäusern, deren Apartments fast ausschließlich und unkontrolliert über Airbnb oder andere Plattformen an Tourist:innen vermietet werden. Die eigentlichen Venezianer:innen dagegen wohnen auf dem Festland. Sie sieht man dann morgens an der Piazzale Roma zur täglichen Arbeit eintreffen.

Kann man diesen Prozess überhaupt noch aufhalten – oder besser noch umkehren?
Darauf werde ich bei meinen kommenden Führungen mit dem Titel „Venedig ist (k)eine Stadt“, die auch im Rahmen der von FSB organisierten Veranstaltungsreihe Berührungspunkte stattfinden, eingehen. Früher war die Angst, dass Venedig zu einem Freiluftmuseum wird – mittlerweile ist es eher zu einem Vergnügungspark, einer Kulisse geworden. Die meisten Venezianer:innen glauben längst, dass es zu spät für eine Rettung ist. Aus deren Sicht existiert die Stadt schon nicht mehr. Man kann die Entwicklung gut an der Anwesenheit von Kindern beobachten: Die gibt es nämlich kaum noch. Daher schließen auch immer mehr Kindergärten und Schulen. Arbeitsplätze gibt es nur noch im Tourismus – und dort verdienen die Menschen gerade einmal ausreichend, um einigermaßen über die Runden zu kommen.

Und das auf Kosten des Verlusts ihrer Stadt.
Ja. Was ein wenig Hoffnung macht, sind kleine Bürger:innenbewegungen, sei es von Studierenden oder Einwohnenden, die um eine Insel, einen Palazzo oder einen Garten kämpfen. Das sind ganz konkrete Fälle, von denen die Menschen betroffen sind.

Der Palazzo Contarini Polignac liegt direkt am Canal Grande. Von hier aus geht es mit dem kostenlosen Wassertaxi-Shuttle zum Biennale-Gelände.

Ist denn eine der bisherigen Architekturbiennalen auf diese Problematik eingegangen?
Die allererste Architekturbiennale ist aus einer Kunstbiennale hervorgegangen – es sollte eine Ausstellung werden, die sich der Probleme Venedigs annimmt und dadurch das Leben vor Ort nachhaltig verbessern würde. Das ist nicht passiert. Natürlich taucht die Problematik immer mal wieder auf, aber aus meiner Sicht ist die Biennale – leider – ein Monstrum geworden. Es geht darum, möglichst viele Besucher:innen in die Stadt zu bringen, nur dann wird die Ausstellung als Erfolg gemessen. Deswegen dauert sie so lange, und deswegen wird sie auch immer größer!

Was halten Sie vom Meetingpoint der Initiative BerührungsPUNKTE, die dieses Jahr während der Biennale wieder einlädt?
Viel! Es ist der richtige Ansatz, einen Ort zu schaffen, an dem sich die Besucher:innen der Biennale vor, während und nach ihrem Besuch der Ausstellung aufhalten und austauschen können – und das in einem äußerst differenzierten, aber auch idyllischen Kontext.

Wenn Sie sich etwas für Venedig wünschen könnten, was wäre das?
Ich würde mir wünschen, dass die Brücken, die Venedig mit dem Festland verbinden, wieder zurückgebaut, die Stadt wieder zu einem Archipel und der Ausverkauf der Stadt gestoppt werden. Dann müsste das Kunsthandwerk, dass in kaum einer anderen Stadt der Welt so dicht vertreten und spezialisiert ist, stärker gefördert werden.

Haben Sie einen Lieblingsort in der Stadt?
Es gibt einige Orte, aber die verrate ich nicht. Eines ist sicher: Auf der Piazza San Marco in der Karnevalzeit werden Sie mich nicht finden.

FSB ist wieder mit dabei in Venedig: Während der Eröffnungstage der Architekturbiennale laden wir ein in den BerührungsPUNKTE Meetingpoint im Palazzo direkt am Canal Grande.