Aktuelle Architektur in Zürich
Lieber leise als laut
„Architektur und Städtebau sind der Soundtrack unseres Lebens.“ Das sagte einmal Patrick Gmür, Schweizer Architekt und ehemaliger Direktor des Amts für Städtebau der Stadt Zürich. Und wie klingt Zürich? Laute Töne oder gewagte Improvisationen sind eher die Ausnahme. In der größten Stadt der Schweiz, mit derzeit etwas über 400.000 Einwohner:innen, ist Zurückhaltung gefragt. Es werden lieber die leisen Töne angeschlagen, melodische Stücke, präzise aufgebaut und von hoher Qualität. Jüngster Zugang im Repertoire der Stadt ist die neue Swiss Re-Zentrale am Zürichsee, die Diener und Diener Architekten in
einen gläsernen Vorhang hüllten und die Anfang Oktober eröffnet wird. Ein Einblick in das Bauen in Zürich der vergangenen Jahre.
Zürich erlebt dank steigender Einwohner;innenzahlen während der letzten 15 Jahre wieder einen Bauboom. Da freie Grundstücke innerhalb der Stadt Mangelware sind, konzentriert man sich seit den 1990ern auf Ersatzneubauten und die Umnutzung freiwerdender Industriezonen, wie unter anderem in Neu-Oerlikon, Leutschenbach, Zürich West oder an der Europaallee. Letztere zählt zu den letzten großen innerstädtischen Flächen, die derzeit transformiert werden. Seit 2009 entsteht entlang der
Bahntrasse zwischen dem Hauptbahnhof und der Langstrasse auf 78.000 Quadratmetern Fläche ein neues Quartier mit Gewerbe-, Einzelhandels- und Büroflächen, hochpreisigen Wohnungen sowie einer Hochschule. Den Masterplan entwickelten KCAP Architects&Planners. Zu den ausführenden Büros zählen unter anderem Max Dudler Architekten, die die erste Etappe, das östlich gelegene Baufeld A, sowie mit Gigon Guyer und David Chipperfield das angrenzende Baufeld C bebauten. Bis 2020 sollen alle acht Baufelder des neuen Quartiers fertig gestellt sein.
Trotz zentraler Lage zwischen dem Hauptbahnhof und dem belebten Kreis 4 vermissen einige Kritiker:innen bisher die Anbindung an die Umgebung, sie sehen in der Europaallee eine nüchterne Betonwüste. In Anbetracht der Dimension bedarf es wohl einfach Geduld, denn es braucht eben seine Zeit, bis Leben in ein neues Quartier einkehrt. Mit den beiden kürzlich fertiggestellten Bauten im Westen, in unmittelbarer Nähe zur Langstrasse, könnte jedoch ein erster Schritt in Richtung Belebung gelingen: Im Gebäude von E2A Architekten eröffnete im April ein weiteres 25hours Hotel, dessen Bar und Restaurant neben den Hotelgästen auch Zürcher:innen anziehen.
Und nebenan versammelt seit September das neue Kulturhaus „Kosmos“ mit Kino, Bühne, Buchladen, Bistro und Bar Kulturliebhaber:innen aller Sparten.
Auf der anderen Seite des Gleisbetts führt ein kurzer Spaziergang stadtauswärts durch den Kreis 5 nach Zürich West. Dort bot das ehemalige Industriequartier durch den Wegzug der verarbeitenden Gewerbe ab den 1990ern eine der größten freien Flächen innerhalb der Stadt. Bis auf wenige Bauvorhaben ist der Entwicklungsplan, der Wohnen, Büros und Gewerbe vorsieht, realisiert.
Städtebauliche Akzente setzen dabei unter anderem der Prime Tower von Gigon Guyer, der mit seiner skulpturalen, grünen Glassfassade mittlerweile zum Wahrzeichen der Stadt wurde, das Toni-Areal, ehemals ein Molkereibetrieb, den EM2N zur Kunsthochschule mit Wohnturm umbauten oder das Löwenbräu-Areal, das Gigon Guyer und Atelier WW zum Kunstzentrum mit Wohnhochhaus und Bürogebäude transformierten. Ganz verschwunden ist die Industrie aus Zürich West allerdings nicht. Jüngst wurde der 118 Meter hohe Swiss Mill Tower fertig gestellt, eine Aufstockung des weiterhin genutzten Kornsilos mit zugehöriger Mühle neben dem Löwenbräu-Areal.
Prägend im Zürcher Stadtbild werden künftig nicht nur neue Hochhäuser sein. Laut Statistik soll die Bevölkerung bis zum Jahr 2030 um 20 Prozent zunehmen und damit auch die Zahl der Wohnbauten und -siedlungen. Einen großen Anteil, aktuell etwa 25 Prozent des gesamten Wohnungsbestandes, macht dabei der genossenschaftliche und kommunale Wohnungsbau aus. Bekanntes Beispiel hierfür ist die Wohn- und Gewerbesiedlung Kalkbreite von Müller Sigrist Architekten, die ganz verschiedene Nutzungen unter einem Dach vereint: Das durchgängige Erdgeschoss des Blockrands integriert zum einen das städtische Tramdepot und setzt zum anderen die für das Quartier typischen, kleinteiligen Nutzungsstrukturen fort.
Darüber liegt ein öffentlicher Park, der von Wohnungen für 250 Menschen umschlossen wird. Auf dem lange Zeit brachliegenden Grundstück entstand so ein wegweisender Stadtbaustein für den Kreis 4.
Für Aufmerksamkeit und Diskussionsstoff sorgen neben den neuen Arealbebauungen und Wohnbauprojekten auch eine Reihe Einzelbauten. Aktuell zum Beispiel die neue Swiss Re-Zentrale am Zürichseeufer, die Diener und Diener Architekten gerade fertigstellen. Komplett in eine gewellte Glasfassade gehüllt, setzt es sich deutlich von seinen Nachbarbauten, dem Swiss Re-Stammhaus von 1913 und dem Mythenschloss ab.
Letzteres, ebenfalls Teil des Swiss Re-Campus, wurde 1982 abgerissen und mit neoklassizistischer Fassade wieder aufgebaut. Bald wird es jedoch einem Neubau von Meili Peter weichen, womit abzuwarten bleibt, wie sich die beiden neuen Bauten als Ensemble in das Stadtbild fügen.
Auf der anderen Seeseite den Hügel hinauf wandelt sich derzeit das Hochschulgebiet am Rande der Altstadt. Erster realisierter Bau des Masterplans ist das Lee-Gebäude von Fawad Kazi, das mit seiner zweckmäßigen und nüchternen Fassade an Bauten in Zürich West oder an der Europaallee erinnert und sich diskret in die Stadtsilhouette fügt. Auch die für 2020 geplante Erweiterung des Kunstmuseums durch David Chipperfield ist Teil des Entwicklungsgebiets.
Patrick Gmür bezeichnet den Bau mit seiner Sandsteinfassade als zurückhaltend und unauffällig, „typisch Zürich“ also.
Hin und wieder erklingen trotz aller Zurückhaltung dann aber doch ein paar laute Töne. Zum Beispiel mit Santiago Calatravas markanten Gleisdächern für den Bahnhof Stadelhofen, die er der Stadt in den 1990ern verpasste. Nun plant er in unmittelbarer Nähe ein neues Geschäftshaus mit auffälliger Glas-Stahl-Lamellenfassade.
Während sich die einen euphorisch über „einen Hauch von großer Welt“ freuen, ist vielen der Bau, der sich wie ein „Kreuzfahrtschiff“ in das Stadtbild schiebt, zu extravagant. Zürich mag es eben doch am liebsten leise und diskret – dabei kann ein Crescendo an der richtigen Stelle durchaus für Abwechslung sorgen.